Ein oft überinterpretiertes Gleichnis

Do 07.11.2024

Lk 15:1-10 Vom verlorenen Schaf und vom verlorenen Groschen

Kontext

Es ist wichtig, Dinge im Kontext zu lesen.

Der Kontext ist das verzweifelte Bemühen, genug Geld für den Turmbau zu haben (siehe gestern).

In meiner Deutung also: Wenig genug Bindungen zu haben, um frei für Jüngerschaft zu werden.

Eine ganze Zeit geht es um die enge Pforte und wie wenige ins Reich Gottes kommen.

Wie gern wird das alles weggelassen.

Aber wer das nicht hört, versteht diese Geschichte vermutlich falsch.

Kein Fahrstuhl in den Himmel

Vielleicht denkt jemand, es wird schon alles gut gehen. Ich brauche gar keinen Turm zu bauen, mir kein Bein für den Himmel auszureißen. Denn am Ende wird der liebe Herr Jesus mich schon irgendwo finden und mit in den Himmel sammeln.

So ist es nicht.

Es ist nicht zuerst ein Gleichnis vom verlorenen Schaf – sondern ein Blick auf den Hirten.

Mir scheint, die Geschichte soll nicht die Bequemen in ihrer Verirrung eine Beruhigung verschaffen. Sondern betrifft Menschen in zwei Situationen:

(a) Den, der schwer loslassen kann

Der Habende, der seine Bindungen schwer loslassen kann, hat diese Not, weil er auf sich selbst sieht.

Wenn ich mich loslassen soll, sehe ich zunächst mich – und das, was ich loslassen soll.

So komme ich nicht weiter.

Schaue auf die Augen dieses Hirten. Auf das Herz jenes Mannes, dessen sehsüchtiger Blick mich auffordert, um jenes verlorenen Schafes Willen das Meine loszulassen.

Denn das Reich Gottes macht mich zum Hirten, wie Jesus Hirte ist.

Es will mich verwandeln zu dem, der das verlorene Schaf mit ebendieser Sehnsucht sucht wie Jesus selbst.

Ich komme gleich noch einmal darauf.

(b) Und für den, der Schulden hat

Frei genug von dem je eigenen zu sein, ist die eine Seite.

Es gibt aber auch: Ich habe nicht zu viel, ich habe nicht zu wenig – ich habe Schulden.

Der Sünder kommt mit seiner Schuld – und für jenen ist „kein Turm zu groß“.

Er hat kein Problem der Bindung an sein Haben – er hätte gern all sein Schuld-haben weg. In etwa: „Wer kauft meine Schulden?“.

Dieser Sünder ist gar kein Problem für Jesus.

Er ist “Enosch“

Enosch (Enoch) und Ben-Adam

Johannes Gerloff zeigt in der Bibel die enorme Spannung zwischen Enosch und Ben Adam.

Er zitiert Psalm 8 (bitte unbedingt lesen).

Enosch (oder Enoch) ist aus der Wurzel א-נ-שׁ (a-n-sch): „schwach sein“ oder „sterblich sein“.

Im gleichen Vers (5) steht dann auch Ben-Adam, Menschensohn. So, wie Jesus sich nennt. Und in Vers 6 und 7 ist von der Größe dieses Ben-Adam die Rede.

Ich sehe es so:

Der Mensch vergisst sein Enosch sein und nimmt sich das Erbe des Ben-Adam für sich selbst.

Der Mann, der den Turm selbst baut.

Oder: Er erkennt sein Enosch sein und vergisst, was Gott ihm eigentlich zugedacht hat.

Aber nur als Enosch finde ich zurück in das Geheimnis des Zugleich.

Das Zugleich ist der Odem Gottes, der als lebendiger Atem in Enosch das Bild Christi erscheinen lässt.

Zurück zu dem, der schwer loslassen kann:

Im Vollzug des Ben-Adam, des Menschensohn seins, also des Jesus ähnlich seins, erfülle ich meine Bestimmung in der Herrlichkeit, die Psalm 8 beschreibt.

Erkenne ich diese Berufung, ist es leicht, das trennende selbst-sein-wollen, haben-wollen, loszulassen.

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