Fr 22.08.2025
Mt 22:34-40 Die Frage nach dem höchsten Gebot
Der Text
Aus dem griechischen Urtext
34 Als aber die Pharisäer hörten, dass Er die Sadduzäer zum Schweigen gebracht hatte, versammelten sie sich.
35 Und einer von ihnen, ein Gesetzesgelehrter, fragte Ihn, um Ihn zu prüfen:
36 Lehrer, welches ist das größte Gebot im Gesetz?
37 Er aber sprach zu ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Denken.
38 Dies ist das größte und erste Gebot.
39 Das zweite aber ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
40 An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.
Anmerkung zur Peschitta:
• In Vers 37 steht wörtlich: „Du sollst lieben den Herrn, deinen Gott, aus all deinem Herzen, aus all deiner Seele und aus all deiner Kraft und deinem Denken.“ – ähnlich der Formulierung im aramäischen Hintergrund von Deuteronomium 6,5.
• In Vers 39 lautet der Ausdruck für „Nächster“ (ܩܪܝܒܟܐ, qarībkā) zugleich „der Dir Nahe“, was die Nähe stärker betont als nur „Mitmensch“.
Hintergrund
Zur Zeit Jesu gab es verschiedene jüdische Strömungen, Schulen. Die Sadduzäer hatte Jesus widerlegt. Was aber war mit den verschiedenen Schulen, die „alle irgendwie recht haben“?
Denn welches der vielen Gebote das „Wurzelgebot“ ist, ist schwer zu sagen. Es gab eine Schule, die sagte: „Schma Israel“, also höre Israel. Das ist die Wurzel von allem.
Auch plausibel.
Heute wäre es vielleicht: Welche Konfession hat recht? Warum wir darüber heute kaum mehr streiten, ist eine andere Frage.
Antwort ohne Antwort.
Jesus verbindet die Antworten zweier Schulen.
Er beantwortet NICHT, was das eine höchste Gebot ist. Nicht so, wie die unterschiedlichen Parteien es hören wollten. Dieses ODER jenes.
Sondern auf einer höheren Ebene ist es ein Doppelgebot.
Das ist nicht selbstverständlich – ja eher überraschend. Denn schon die Stellen in der Thora sind weit auseinander. 5.Mo 6:5 und 3.Mo 19:18. Das heißt, die Thora bringt diese Gebote selbst nicht in eine Nähe zueinander.
Jesus kennt die geistigen Strömungen und verbindet, was zusammengehört – nachdem er getrennt hat, was nicht dazu gehört (Sadduzäer).
Wenn ich etwas finde, das unbedingt wahr ist und etwas Zweites finde, was auch unbedingt wahr ist, aber etwas anderes ist. Und diese Zweite ist auf den ersten und zweiten Blick ein Kontrapunkt zur ersten Wahrheit, dann ist ein Entweder-oder zumeist die falsche Lösung.
Ich muss Gott über alles andere stellen – das ist wahr.
Ich muss den Menschen neben mir lieben – das ist wahr.
Und im Alltag kann und ist es eine enorme Spannung zwischen diesen beiden.
Wer Gott mehr liebt als die Menschen, der kennt Gott nicht. Und wer den Menschen liebt und Gott nicht sucht, wird es schwer haben, den Menschen recht zu lieben.
Und es ist der Nächste, der zu lieben ist. Die Familie zuerst. Ehepartner, Vater, Mutter.
NICHT der Nächste, den ich mir aussuche.
Konfessionen
Jesus verbindet Konfessionen innerhalb des Judentums.
Ich verbinde Konfessionen innerhalb des Christentums.
Das ist keine Liebhaberei oder ein Interesse an der Vielfalt.
Sondern Jesu Aussage macht deutlich: Wenn du nur der Wahrheit der einen Schule folgst, gehst du in die Irre. Die Wahrheiten gehören zusammen (wenn es denn Wahrheiten sind).
„Der eine mag’s halt lieber so, der andere anders.“
Genau so nicht!
Deine Wahrheit ist nicht optional für mich. Nicht verzichtbar – sie ist auch für mich notwendig.
Entfaltung in der Zeit
Jesu Doppelgebot ist vielleicht ähnlich wie die Trinität. Sie ist nicht von Anfang an Thema, z. B. in der Thora. Sondern sie ist Entfaltung der Synagoge, Entfaltung der Kirche.
Jesus verbindet Synagoge und Kirche.
Es ist dieselbe Blume.
Man kann den Anfang nicht verstehen, wenn man nur auf den Anfang schaut. Wenn man die Entfaltung der Kirche unberücksichtigt lässt.
Es findet im Staub der Zeit statt.
Keine rein geistige Wahrheit – sondern eine ebenso geschichtliche Wahrheit.
Nur erkennbar in, an und durch die Geschichte.
Wo geerntet werden soll, soll nicht gesät werden, aber wo wir gerade stehen, ist nicht durch die Bibel klar benannt.
Es ist eine Entfaltung des Selben – nicht ein Ersatz.
Die Fragmente aus den Qumran-Rollen sagen nichts veraltetes – aber sie helfen uns kaum für heute weiter. Denn heute ist der Geist Gottes an einer anderen Stelle der Entfaltung. Qumran wusste nicht von der Trinität – darum rettet uns Qumran nicht im Ringen um die Wahrheit.
Die Wahrheit der Gegenwart – die gegenwärtige Wahrheit – ist nicht identisch mit einer zeitlosen Wahrheit.
So wenig wie man Weisheit in Flaschen füllen kann oder in Tonkrügen Jahrtausende aufheben.
Wissen schon – aber nicht Weisheit.