Demut ist ein scheues Reh

So 23.10.2022

Lk 18:9 ff Der Zöllner und der Pharisäer im Tempel

Zu diesem Theme werde ich am Tag Allerheiligen bei Radio Horeb ein Interview geben.

Demut scheint mir wie ein scheues Reh oder wie ein verwehender Duft, eine Wolke. Sobald ich mich ihr nähere, entzieht sie sich mir wieder.

Ich denke, das hat damit zu tun, dass ich Demut nicht direkt intendieren, also beabsichtigen kann. Demut scheint mir ein Beziehungswort zu sein.

Ich versuche das in einem anderen Wort, das genauso schwierig zu beschreiben ist – des Liebens.

Beispiel: Liebe in der Ehe

Wenn Klienten in der Therapie mit mir darüber sprechen, warum sie den oder jenen Ehemann oder Ehefrau geheiratet haben, dann sprechen sie oft von Liebe. Wenn wir dem etwas genauer nachgehen, stellt sich eigentlich immer etwas anderes heraus. Dass der andere zum Beispiel in einer besonderen Lebenssituation oder aufgrund einer eigenen Biografie besonders passend erschien, oder als jemand, der wie eine Antwort daherkam. Oder einer äußerlichen Attraktivität oder der Sehnsucht der eigenen Einsamkeit zu entgehen oder andere Dinge.

Das damit einhergehende Gefühle wird dann oft als Liebe bezeichnet. Verschwindet das Gefühl, ist das Bestreben da, es wieder neu zu beleben. Das Gefühl zu beleben, macht den anderen zum Zweck, zu einem Objekt meiner Befindlichkeit, meiner Gefühlslage. Liebe ist vielmehr die Frucht von anderweitigen Intentionen. Nicht die Liebe darf intendiert werden, sondern der andere. Da dies nur mein Beispiel und das nur mein Vergleich ist, lasse ich es dabei bewenden.

So auch bei der Demut

Ich sehe eine Ähnlichkeit bei der Demut. Demut ist eine Komponente der Liebe. Demut hat nicht sich selbst im Blick, sondern den Anderen.

Weg zur Demut

In den Glückseligpreisungen Jesu, zum Beispiel in Matthäus fünf, geht es nicht darum, glückselig zu werden, sondern es geht um einzelne Merkmale des Seins in Bezug auf andere. Etwa meine sanftmütige Haltung zu anderen hat als Frucht die Glückseligkeit. Die Glückseligkeit ist ein Indikator, ein Ergebnis. Es ist etwas, worüber ich im Alltag nicht nachdenke. Von dem ich jetzt vielleicht gar nicht weiß. Erst nach Fragen von anderen stelle ich fest: tatsächlich, ich bin glückselig.

Ich sehe im Grunde eine Entwicklung. Zuerst ist es Mit-sein, was Alfried Längle als zweite Grundmotivation bezeichnet. Ich nenne das die Erste. Ich bin mit, in der Familie in der Mutter bei der Mutter.

Dann kommt das Selbst-sein. Das Wahrnehmen der eigenen Verantwortung, der eigenen Person und die Übernahme von Verantwortung. Nun gehe ich aus dieser Freiheit wieder in die Bezogenheit, in das Gegenüber und indirekte Mit-sein. In meiner Verantwortlichkeit trage ich dazu bei, mit anderen Frucht zu bringen. Dieses Fruchtbringen mit dem anderen kann nur in Demut geschehen, weil sie das selbstherrliche Selbst-sein aufgibt. Das selbst sein wird investiert und verschenkt. Die Wahrnehmung, dass ich ich-selbst und verantwortlich bin und zugleich bezogen und gemeinsam bin, nenne ich Liebe.

Es ist offensichtlich so, dass ich für mich selbst weder friedfertig noch barmherzig noch demütig noch liebend sein kann. Dazu braucht es den konkreten, real existierenden Anderen. Mensch sein fängt mit Zweien an.

Glücklich sein, lieben, demütig sein ist somit ein Indikator, kein Ziel. An ihrem vorhanden sein kann ich erkennen, ob ich auf dem Weg bin. Aber der Weg ist nicht das Ziel, auch wenn viele das meinen.

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